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Transdisziplinäre Krebsforschung mit den Mayas

Das Macocc Projekt

Body-Mind Komplementaritäten auf der Ebene der Zelle, des Patienten und der therapeutischen Allianz

Roland W. Scholz, ETH Zürich und Universität Zürich

 

 

 

Transdisziplinäre Krebsforschung mit den Mayas – Das Macocc Projekt

Body-Mind Komplementaritäten auf der Ebene der Zelle, des Patienten und der therapeutischen Allianz

Roland W. Scholz, ETH Zürich und Universität Zürich

 

Der Artikel beschreibt, wie aus Fragen der Grundlagenforschung Interesse an dem medizinischen Wissen und der Krebstherapie der Mayas entsteht. Nach Darstellung der wesentlichen theoretischen Annahmen wird über die erste Phase des Forschungsprojektes Macocc, in dem Interviews mit 65 Maya-Heilern aus fünf ethnolinguistischen Gruppen in Guatemala der Gegenstand waren, berichtet. Bei den Mayas bilden Patient und Heiler eine starke therapeutische Allianz und in der Therapie von Krankheiten, wie Krebs, werden kognitiv-spirituelle mit pflanzlich-pharmakologischen Behandlungen kombiniert. Dies kann aus der Sicht einer umfassenden Theorie der Mensch-Umwelt Systeme mit einem Mehr-Ebenen ’Body-Mind’ Modell erklärt werden, welches für die integrative Krebstherapie neue Impulse einer erweiterten wissenschaftlichen Begründung liefern kann.

Krebs, ein evolutionäres Erbe

Der Londoner Zellbiologe, Immunologe und Krebsforscher Mel Greaves[1] hat Krebs als ein evolutionäres Erbe bezeichnet. Krebs gab es schon vor 150 Millionen Jahren bei den Sauriern. Vor knapp 100 Jahren wurden an fossilen Funden von Saurierskeletten Veränderungen entdeckt[2], die in ihrer Beschaffenheit einem Knochenkrebs entsprechen[3, 4]. Epidemiologische Studien zeigen, dass sich die Vulnerabilität gegenüber Krebs entwicklungsgeschichtlich vergrößert hat und beim Menschen Krebserkrankungen häufiger sind als bei Tieren[5]. Hier mögen menschliche Ernährungsgewohnheiten und Rauchen eine Rolle spielen. Etwa jeder vierte Mensch wird in seinem Leben in kritischer Weise mit bösartigen, wuchernden Krebszellen konfrontiert, während bei anderen Primaten Krebs in der Häufigkeit von nur 1-2% vorkommt[6] und auch Nichtprimaten eine niedrige Inzidenz für Krebs zeigen.

Anthropologische und historische Studien zeigen, dass Brust- oder Gebärmutterkrebs schon vor über 2000 Jahren die Menschheit beschäftigten. Nun liegt es in der Natur des Menschen, dass er für alle Dinge von Bedeutung nach kausalen Erklärungen sucht. Dies gilt auch für vorhistorische Gesellschaften. Gemäß anthropologischen Theorien erklären diese Gesellschaften die Entstehung von Krebs – wie auch die von anderen Krankheiten – durch das Wirken von bösen Geistern, übernatürlichen Kräften, Kontakt mit dem Bösen oder durch Disharmonie mit dem Universum[7]. Ähnlich werden bösartige Krankheiten bei den Griechen und Römern als Folge einer Verletzung der religiösen oder göttlichen Regeln verstanden. Eine und vielleicht die erste physiologische Theorie, wurde in der Antike entwickelt. Galen (129-200) erklärt Krebs als das Ungleichgewicht der vier Körperflüssigkeiten, wie auch Hippokrates (460-370 v. Chr.), als eine Folge des Überflusses der schwarzen Gallenflüssigkeit. Wegen des christlichen Verbots der Autopsie kam die abendländische Geschichte der Krebsforschung dann für rund eintausend Jahre zu einem Stillstand. Die erste bekannte schriftliche Dokumentation einer Krebserkrankung findet sich in einem post mortem publizierten Buch aus dem Jahre 1507 von Antonio Benivieni (1443-1502)[8].

Es dauerte dann weitere 350 Jahre, bis Rudolf Virchow (1821-1902) mit seiner Zelllehre den grundlegenden Gedanken zu dem heutigen naturwissenschaftlichen Standardverständnis der Entstehung von Krebs entwickelte. Die westliche Medizin erklärt heute die Entstehung von Krebs als eine besondere Form und Dynamik von biochemischer Mensch-Umwelt Beziehung. Krebs wird heute als eine Folge von Mutationen der DNA-Sequenz verstanden, die sich den biologischen Kontroll- und Reparaturmechanismen der Zelle und des Immunsystems entzogen haben. Die Dynamik dieser Beziehung wird durch genetische Dispositionen, molekulare Dynamiken und durch virale, toxische oder andere Umwelteinflüsse erklärt. Auch die Therapien mit Hilfe von Chirurgie, Bestrahlung und Chemotherapie beschränken sich auf die physikalisch-chemische Welt, oder wie Mel Greaves es ausdrückt, auf „Schneiden, Verbrennen und Vergiften“.

Von Molekularen Strukturen zu Zeichen und Signalen
Aus systemtheoretischer Sicht bewegt sich die gegenwärtige onkologische Forschung in einem engen naturwissenschaftlichen, auf molekulare, biochemische Mikrostrukturen reduzierten Rahmen. In der Sprache der Kognitionswissenschaften wird alleinig die physikalische ’Hardware’ des Systems betrachtet. Eine auf den physikalischen Grundlagen operierende ’Software’, die den materiellen Strukturen Bedeutung zuordnen kann, wird ausgeblendet. Dieses enge Konzept ist aus erkenntnistheoretischer Sicht fragwürdig, da es schlussendlich annimmt, dass jeder Gedanke oder jede noch so komplexe Information Eins zu Eins durch molekulare Strukturen eindeutig dupliziert wird. Aus anderer Sicht verfügen biologische Systeme über weitergehende Eigenschaften der Informationsverarbeitung als Maschinen. Dies wurde bereits von Jakob von Uexküll (1864-1944) dargelegt, der den Zellen die Fähigkeit zusprach, Zeichen als Grundmuster der Natur zu erkennen und zu lesen[9].

Sicherlich sind die Zeichensysteme, welche das Immunsystem lesen kann, unterschiedlich von dem, was das menschliche Gehirn verarbeitet. Aber zelluläre Systeme besitzen vielfältige Lernmechanismen. Schon indem man von Informationen spricht, wird auf eine kognitive, immaterielle Ebene Bezug genommen, die mit materiellen Strukturen verbunden wird, oder – um es in anderen Worten auszudrücken – es wird von einer ’Mind-Body’ Komplementarität[10] ausgegangen. Dies bedeutet, dass in gleicher Weise wie in der Heisenbergschen dualistischen Theorie von Licht, die Eigenschaften eines Photons einerseits als materielles Korpuskel und andererseits gleichzeitig als immaterielle Welle modelliert werden. Nur so lassen sich die wesentlichen Eigenschaften von Licht erfassen.

Zellen sind also keine rein mechanistischen Gefüge. Bestimmte Zellsysteme wie das menschliche Gehirn können physikalische Signale bewerten, interpretieren und kognizieren ein und dieselbe Botschaft aus unterschiedlichen (aber in ihrer Form ähnlichen) physikalischen Strukturen. Aus molekularen Mustern werden Zeichen oder Signale. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Krebsforscher, wie Polly Matzinger[11], davon ausgehen, dass Krebszellen keine Gefahrensignale aussenden (wie etwa von Zellen, die von Viren befallen sind) und deshalb nicht von den diese Zellen umlagernden T-Zellen angegriffen werden.

Das Immunsystem als ein kognitives System
Irun Cohen, einer der führenden Immunologen und Professor des Weizman Instituts, teilt die im letzten Abschnitt dargelegte Sichtweise. Er betrachtet das Immunsystem als ein lernendes, kognitives System, welches situationsabhängig Entscheidungen trifft[12]. Ob T-Zellen oder Makrophagen aktiv werden, hängt von den Informationen ab, welche diese aus ihrer „Umwelt“ erhalten, von ihrer Erfahrungsgeschichte und den Signalen, die sie von anderen Organen und Zellsystemen erhalten. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass das Immunsystem sich ein Bild von der molekularen Umwelt macht und erfahrungs- und situationsabhängig entscheidet, ob es andere Zellen angreift. Das Immunsystem befindet sich somit in einem Dialog mit seiner Umgebung im menschlichen Körper und seine Reaktionen sind nur zu einem gewissen Grad vorprogrammiert. Das Phänomen der Auto-Immunkrankheiten zeigt, dass es dem System bisweilen schwer fällt, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden und sogar bisweilen schwerwiegende, für den gesamten Körper falsche und kritische Entscheidungen fällt.

Aus systemtheoretischer Sicht wird mit der Auffassung des Immunsystems als kognitives System eine ’Mind-Body’ Komplementarität auf der Ebene der Zelle eingeführt. In diesem Kontext kann eine Impfung als ein Lernen etwa für Immunzellen angesehen werden, da durch die Konfrontation mit Antigenen die Wahrscheinlichkeiten der Aktivierung des Systems vergrössert werden.

Abbildung 1: Die heutigen Mayas sind Nachfahren einer der drei Hochkulturen Mittel- und Südamerikas. Heute leben, grob geschätzt, etwas mehr als 6 Millionen Personen in Guatemala und den umliegenden Ländern von Guatemala, die sich als Mayas bezeichnen. Zeremonien, in denen Zeichen der Götter gelesen werden, sind für die traditionellen Mayas auch heute von Bedeutung. Das Bild zeigt Mayas in der Anfangsphase der Zeremonie zur Vorbereitung des 2. Workshop in Tikal am 13. 01. 2011. Dort haben die fünf beteiligten Ältestenräte eine Affirmation zur Zusammenarbeit im Macocc Projekt gegeben.

Trotz grosser Fortschritte der Psychoneuroimmunologie werden in der Schulmedizin psychologische, soziale oder gar spirituelle Faktoren der Ätiologie von Krebs als marginal betrachtet und nur bei Einzelfällen herangezogen, für die gängige Theorien keine Erklärung liefern. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle angeführt, dass wir annehmen, dass alle Lernprozesse mit differenzierten biophysikalisch-chemischen Prozessen verbunden sind. Es wird aber postuliert, dass – wie schon etymologisch im Begriff „in-form-ation“ dargelegt – biotische Systeme ab einer bestimmten Entwicklungsstufe aus den molekularen Strukturen Formen oder Muster extrahieren, die dann zu bedeutungsvollen Signalen werden können, welche das Verhalten dieser Systeme beeinflussen.

In-Beziehung-Setzung von Maya Wissen und onkologischem Wissen über Krebs

Warum ist das medizinische Wissen der Mayas von Interesse?
Das Interesse an einer Erforschung des medizinischen Wissens der Mayas ergab sich aus Diskussionen mit der guatemaltekischen Anthropologin und Maya Priesterin (ajk‘ij) Monica Berger-Gonzales über Fragen der Kosmologie (d.h. dem Grundverständnis des Wirkungsgefüges der Welt) der Mayas und der Entstehung und Behandlung von Krankheiten.

In Guatemala lebt heute der Grossteil der über 6 Millionen Menschen, die sich als Nachfahren der um 900 kollabierten Hochkultur der Mayas bezeichnen. Wir finden heute allein in Guatemala über 20 verschiedene Maya-Sprachen sprechende ethnolinguistische Gruppen, welche – je nach geographischer Lage und historischen Einflüssen – mehr oder weniger traditionelles Wissen und Lebensweise repräsentieren. Die Maya Hochkultur zeichnete sich durch eine hoch entwickelte Mathematik, erstaunliche Präzision bei astronomischen und kalendarischen Berechnungen, ein zyklisches Zeitkonzept, eine aus einer Verbindung von Zeichen und Silben (Glyphen) bestehenden Sprache und eine elaborierte, von einem Schöpfer und vielen Göttern/Geistern und – vereinfacht dargestellt – aus Unterwelt, Himmel und Erde bestehendes Universum aus. Das energetische Potential (Lebensenergie) – und damit in gewisser Weise auch ein gesundheitliches Potential – eines Menschen wird durch den Zeitpunkt der Geburt bestimmt, da nach der Maya Kosmologie jeder Mensch mit einem Nawal, d.h. einem Geist in Verbindung steht, welcher das energetische Profil des Menschen bestimmt.

Die Dokumentation von medizinischem Wissen der Mayas aus der präkolumbischen Zeit ist sehr beschränkt, da die spanisch-christliche Konquisation zu Mitte des 16 Jahrhunderts den allergrössten Teil der schriftlichen Dokumente und Inschriften beinhaltenden Stelen vernichtete. Es gibt aber einige Dokumente, wie das heilige Buch Popul Vuh[13], in denen an einigen Stellen medizinisches Wissen oder Pflanzen zur medizinischen Behandlung dargestellt werden. Die Mayas haben ein ganzheitliches Konzept von Gesundheit und Krankheit, in dem religiös-spirituelle Kräfte eine zentrale Rolle spielen. Krankheiten werden im Grundsatz als eine Verletzung der Balance, des Gleichgewichts oder der Harmonie des Individuums mit dem Universum verstanden. Hier ist interessant, dass die Mayas keinen Umweltbegriff kennen, da sie sich selbst mit dem Universum verwoben sehen. Krankheiten entstehen aus der Verletzung und dem mangelnden Respekt vor der Natur (auch Steine werden in unserem Sinne als „lebend betrachtet“), sowie aus Verletzungen von Grundprinzipien der sozialen Ordnung oder religiöser Prinzipien. Einige Krankheiten werden z.B. in Verbindung mit einer Besitzergreifung durch (böse) Geister interpretiert. Auch Epidemien werden in ähnlichen Kontexten interpretiert.

Abbildung 2: Dieses Bild zeigt den Q‘echi Heiler Nicolas Ical Coc (2. von rechts) mit seinem 18 jährigen Schüler (rechts aussen), der seine Ausbildung bereits als 10-jähriger begann und in zwei bis drei Jahren als Maya Heiler arbeiten möchte. Zweiter von links: Pablo Ax CantÍ, Vorsitzender des Ältestenrates der Q‘echi, erster und dritter von links sind zwei Mitglieder des Rats der Q‘echi; Prof. Scholz in der zweiten Reihe.

Mind, Body und Lebensenergie stellen bei den Mayas eine Einheit dar, auf welche sich das therapeutische Handeln der Heiler bezieht. Pflanzen und andere physikalische Hilfsmittel sollen helfen, das gestörte Gleichgewicht herzustellen. In welcher Form diese Heilungsprozesse zu begreifen und theoretisch zu beschreiben sind und ob diese möglicherweise im Rahmen neuerer wissenschaftlicher Mind-Body Erklärungen oder gar aus der Sicht einer integrativen Krebsforschung „neu gerahmt werden können“, ist eine der Forschungsfragen des Macocc Projekts.

Aber zurück zur physiologisch-chemophysikalischen Ebene. Als wichtigster Indikator von Krankheit wird nicht – wie in der westlichen Medizin – die Körpertemperatur betrachtet, sondern Anomalien des Pulses. Untersuchungen dokumentieren, dass Maya Heiler bis zu 42 Pulstypen unterscheiden können[14]. Bezogen auf die Klassifikation von Krankheiten zeigen ethnomedizinische[15] und ethnobiologische[16] Forschungen mit den Mayas, dass „Laien“ über eine allgemeine, natürliche Taxonomie von Organen und Krankheiten verfügen, die gute Kompatibilität mit biologischen und medizinischen Systemen besitzen[17]. Dies betrifft natürlich vornehmlich Krankheiten, welche sich durch äussere Symptome identifizieren lassen. Für spezifische Krankheiten der inneren Organe, wie z.B. Bauchspeicheldrüsenkrebs, sind keine Maya Begriffe bekannt. Im Gegenteil, es ist offen, ob die Mayas den Pankreas oder Krebs kennen. Bei den Mayas gibt es ein differenziertes Heilungs- und Geburtshilfewissen. Behandlungen von Krankheiten erfolgen durch eine Kombination von pflanzen- und mineralienbasierter Medikation und kognitiv-spirituellen Prozessen.

Heiler wird man über eine lange, oft zehn und mehrere Jahre dauernde Ausbildung bei einem oder mehreren erfahrenen Heilern. Viele Heiler beginnen ihre Ausbildung als Kinder (siehe Abbildung 2). Auf dieser Grundlage können wir davon ausgehen, dass Heiler ein basales Erfahrungswissen über Krankheiten, Behandlungen und den Umgang mit der Erkrankung erwerben. Viele Heiler sind zugleich Priester. Auch eine Ausbildung zu einem Priester dauert mehrere Jahre und ist mit einer Vielzahl von Prüfungen verbunden.

Einige Heiler nutzen über mehrere hundert verschiedene Pflanzen und haben ihre Eigenschaften, Anwendungen und Standorte schriftlich dokumentiert. Ein großes Problem ist hier, dass viele Heilpflanzen wegen der starken Rodung des tropischen Urwaldes drohen, verloren zu gehen. Es sei erwähnt, dass die auch in der Hippokratischen Körperflüssigkeits- (humorale-) Medizin[10] wichtige „hot-cold“ Komplementarität bei den Mayas ein Rolle spielt. Krankheiten wie auch Heilpflanzen können hot (Brechreiz; Zwiebel) oder cold (Lähmung; Käse) sein. Eine Anwendung der hot bzw. cold Pflanzen oder Nahrungsmitteln bezieht sich auf den Effekt, der im Körper bewirkt werden soll[18, 19]. Wir sehen, dass das Gleichgewicht, Äquilibrations- und Gleichgewichtsprinzip hier eine zentrale Rolle spielt.

Forschungsfragen des Macocc Projektes

Im ersten Teil des Macocc (Maya and contemporary scientific conceptions of cancer) Projekts stand die Frage im Vordergrund, ob die heutigen traditionellen Mayas ein Verständnis oder gar spezifische Methoden zur Diagnose von Krebs besitzen. Die Forschungsfragen beziehen sich darauf, ob und wie bei den Mayas Krebs definiert wird, welche Erklärungen zur Entstehung von Krankheiten und Krebs herangezogen werden und welche Rolle kognitiv-spirituelle/religiöse und physikalisch-pflanzliche Komponenten der Therapien spielen. Eine weitere Gruppe von Fragen bezieht sich darauf, ob sich mit Hilfe transdisziplinärer Methoden ein Prozess des wechselseitigen Lernens zwischen der Maya-Medizin und der westlichen Medizin gestalten lässt. Hier ist wichtig zu berücksichtigen, dass von Seiten der Mayas ein großes Misstrauen gegenüber westlicher Kultur und westlichen Akteuren herrscht, da die Geschichte der Mayas seit der kolonialen Eroberung durch Unterdrückung und genozid-ähnlichen Prozessen begleitet wurde. Nach Aussagen von Cirilo Perez Oxlaj[20], Vorsitzender des Ältestenrates der Mayas von Guatemala (MCEG), waren alle Erfahrungen mit pharmazeutischen Unternehmen, welche den MCEG nahezu täglich kontaktieren, immer äusserst negativ, da diese Unternehmen lediglich am Wissen über Heilpflanzen und deren finanzieller Vermarktung interessiert seien und nicht an Kontexten der Anwendung interessiert sind.

Ein dritter Teil der Hypothesen des Macocc Projekts bezieht sich auf die eingangs dargestellten grundlagentheoretischen Fragen. Dazu gehören: Lässt sich die Mind-Body Komplementarität und ihre Bedeutung auf der Grundlage der Analyse von Maya Heilungsmethoden besser verstehen? Lassen sich, etwa mit Hilfe einer geeignet gestalteten epidemiologischen Untersuchung, Wirkungen kognitiv-spiritueller Therapien der Mayas nachweisen? Zu denken wäre hier etwa an eine retrospektive Längsschnittstudie, in der man z.B. die 2-Jahres Rezidiv Raten von Krebspatienten nach entweder klassischer Krebstherapie alleine oder zusätzlicher kognitivspiritueller Maya-Therapie vergleicht. Eine kontrollierte klinische Studie als ultimativer Schritt wäre als Nächstes sinnvoll, wenn man bereits ein klares Bild über die Diagnose und Therapie bei den Mayas hätte und z.B. aufgrund der vorangegangenen retrospektiven Längsschnittstudie die begründete Vermutung bestünde, dass hier etwa signifikant verbesserte Heilerfolge durch zusätzliche kognitiv-spirituelle Therapie erzielt werden könnten.

Als begleitender Schritt in einer solchen interkulturellen und interdisziplinären Forschung wäre wünschenswert, dass zwischen dem Handeln der Maya Heiler und Modellen und Befunden zur Aktivierung des Immunsystems, d.h. molekular- und zellbasierter Erklärungen zur Krebsgenese eine empirisch substantiierte Verbindung hergestellt werden könnte. In einer solchen Untersuchung müssten also psychologische mit physiologischen Prozessen verbunden werden. D.h. es müsste untersucht werden, welche spezifischen neuroendokrinen, das Immunsystem regulierende Stoffe während einer Maya Therapie aktiviert werden und wie diese Stoffe mit einem positiven Krankheitsverlauf assoziiert sind.

Um eine solche umfassende Untersuchung erfolgreich zu planen, braucht es Gegebenheiten, die eine exakte Tumordiagnostik, genaue Dokumentation des Krankheitsverlaufes und die labormedizinisch/histopathologische Messung relevanter Parameter ermöglichen. Der hier beschriebene, im weitesten Sinne in die Psychoonkologie – oder vielleicht passender Psycho-Immuno-Onkologie – fallende Ansatz, ist durch eine bereits gute theoretische Grundlage und empirische Befunde untermauert[21]. Diese beziehen sich jedoch häufig eher auf die negativen Einflüsse auf den Krankheitsverlauf durch Stress und Deprivierung. Wir gehen auf diesen Punkt noch am Ende des Artikels ein.

Warum sind die Mayas an dem transdisziplinären Macocc Projekt interessiert?
Eine wechselseitige Offenlegung der Interessen an einer Zusammenarbeit ist die Grundvoraussetzung für ein transdisziplinäres Projekt. Die guatemaltekischen Maya Ältesten waren sich der Gefahr, Maya Wissen zu verlieren, bewusst. Deshalb wurde das Macocc Projekt als einmalige Chance gesehen, das medizinische Wissen der Mayas zu dokumentieren und zu erhalten. Don Cirilo Oxlaj Perez nahm in seiner Begründung, das Projekt zu unterstützen, zudem Bezug auf den Maya Kalender. Am 21. Dezember 2012 endet der 13. Bakun (ein Bakun hat ca. 394 Jahre) und es beginnt eine neue Zeitepoche der Mayas. Das Ende des Bakuns wurde mit zwei bemerkenswerten Zielen verknüpft, zum einen mit der Mission der Mayas „der Welt etwas zu geben“ und zum zweiten, um eine „Brücke zwischen den Mayas und der westlichen Welt zu bauen.“

Abbildung 3: Simeon Taquira, Oberhaupt des Ältestenrates der Kachiquel-Maya (rechts, Stellvertretender Leiter auf der Seite der Mayas in der 1. Projektphase), sowie Prof. Scholz (wissenschaftlicher Co-Leiter des transdisziplinären Gesamtprojekts) beim Treffen am 13. Januar 2011, mit Don Cirilo Perez (dem Co-Leiter des Gesamtprojekts auf der Seite der Mayas) im Palacio Nacional, dem Sitz des Präsidenten Guatemalas.

Darüberhinaus gab es eine Reihe von eher unmittelbaren Interessen. So wurde das Projekt als hilfreich betrachtet, um die Arbeit der einzelnen Councils zu konsolidieren und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Maya Councils zu verstärken.

Weitere Interessen sind eher politischer Natur. Das medizinische Wissen der Mayas wird von der Regierung nicht geschätzt und nicht unterstützt. Das Macocc Projekt wurde somit als Chance gesehen, Aufmerksamkeit und nationale Anerkennung – z.B. durch die Zusammenarbeit mit einer renommierten Hochschule wie der ETH Zürich – zu erhalten. So wurde schon kurz nach dem 1. Workshop die Forderung gestellt, dass sich das Macocc Projekt für die Errichtung eines Maya-Krankenhauses einsetzt und den Aufbau einer Maya Universität unterstützt, in dem das Wissen der Mayas gepflegt und gelehrt werden kann.

Traditionelle versus transdisziplinäre Forschung

Traditionelle medizinische und psychologische Forschung sind durch eine Subjekt-Objekt Beziehung geprägt. Das Subjekt, hier ein Forscher oder Forschungsteam, ist an einer medizinischen oder psychologischen Intervention interessiert, entwirft einen Forschungsplan und nutzt dann mehr oder weniger zufällig ausgewählte Individuen als Versuchspersonen. Dieses Vorgehen ist aus verschiedenen Gründen bei dem Macocc Projekt nicht anwendbar. Neben dem aus historischen Gründen vorhandenen Misstrauen und den sprachlichen Problemen, ist ein Zugang zu dem Maya Wissen von erfahrenen Heilern nur für Personen möglich, die Zugang zur gleichen Ebene des Maya Kodes besitzen. Heiler, die auch Priester sind, befinden sich auf der höchsten Stufe des Kodes und geben ihr Wissen nur an Personen der gleichen Stufe weiter. Hinzu kommt, dass – in aller Regel – Fragen aus der westlichen (Wissenschafts-)Sprache in ein anderes Wissenssystem übersetzt und umschrieben werden müssen, um verstanden zu werden. So gibt es bei den Mayas etwa keine Worte für Organismus oder gar Metastasen.

Transdisziplinäre Forschung funktioniert vollkommen anders. In transdisziplinären Prozessen begegnen sich Wissenschaftler und Praktiker auf gleicher Augenhöhe. Praktiker und Wissenschaftler werden als Systemexperten einer anderen Art begriffen, die in einen Prozess des wechselseitigen Lernens treten[22]. Auf der einen Seite diejenigen – z.B. die Patienten oder Maya Heiler – welche „mit dem Problem leben“. Sie besitzen ein praktisches Erfahrungswissen, welches aus dem unmittelbaren, umfassenden Erleben der Krankheit oder eines Problems entsteht. Auf der anderen Seite finden sich Wissenschaftler, welche wissenschaftliche Modelle und Theorien über Genese, physiologische und psychologische Prozesse, oder statistische Modelle besitzen. Wissenschaftler können konsistente, (im engen Rahmen) widerspruchsfreie Erklärungen zur Entstehung oder zur Wirkung der Behandlung von Krankheiten entwickeln.

Transdisziplinäre (Td) Prozesse haben sich in den letzten 20 Jahren vornehmlich in den Umweltwissenschaften entwickelt[23]. In ihrer idealen Form zeichnen sie sich dadurch aus, dass Praktiker und Wissenschaftler an einem Umgang mit ein und demselben Problem interessiert sind und in einen offenen, vertrauensvollen, empathischen Diskurs über die Genese, die Natur und die Transformation des Problems eintreten. Wir sprechen hier von einer In-Beziehung-Setzung von Wissen (Epistemiken). Ein idealer transdisziplinärer Prozess zeichnet sich durch eine gleichberechtigte Ko-Leitung des „legitimierten Entscheiders“ und eines Wissenschafters aus. Im Falle des Macocc Projekts waren dies auf der Seite der Mayas Cirilo Perez Oxlaj und Simeon Taquira, Leiter der guatemaltekischen GMCE und der Autor dieses Artikels (siehe Abbildung 3), sowie der Onkologe und Wissenschaftler Prof. Christoph Renner, Universitätsspital Zürich. Ein wesentlicher Schritt des Prozesses war die Formulierung einer gemeinsamen Leitfrage. Diese lautete: „Welche Rolle und welchen Wert können Auffassungen der Mayas für ein wissenschaftliches Verständnis von Krebs bekommen?“ Und: „Wie und auf welchen Wegen lassen sie sich in Beziehung setzen?“

Ein für transdisziplinäre Prozesse noch nicht sehr gut verstandenes Problem und wissenschaftstheoretische Herausforderung besteht darin, mit geeigneten Konzeptionen zu beschreiben, wie eine „in Beziehung-Setzung“ grundverschiedener Wissenstypen, Weltbilder und kausaler Logiken (wir bezeichnen diese drei Dinge zusammen als Epistemiken) vorgenommen werden kann. Wie im nächsten Abschnitt dargelegt, wurde hier unter Bezug auf das emic-etic Prinzip[24] ein theoretischer Zugang gefunden, der nicht nur theoretisch interessant ist, sondern der sich auch in der Praxis zur Kommunikation zwischen den Projektmitgliedern der Mayas und des Wissenschaftssystems anwenden lässt.

Methodik

Vorbemerkungen
Dieser Abschnitt berichtet über Erkenntnisse und neue Sichtweisen, die sich aus der 1. Phase des Macocc Projekts ergeben haben. Der intensive transdisziplinäre Prozess erstreckte sich mit einer etwa halbjährigen intensiven Vorlaufzeit, vom 1. September 2010 bis zum 9. September 2012, welcher den Abschluss der ersten und Beginn der 2. Phase des Macocc Projekts darstellt.

Wir berichten an dieser Stelle über keine differenzierten Auswertungen, sondern beschränken uns auf eine forschungsmethodische Darstellung und einige zusammenfassende Einsichten oder „erste Ergebnisse“, die sich aus den Erfahrungen der ersten beiden Projektjahre gebildet haben. Die „ersten Ergebnisse“ stellen in gewisser Weise differenzierte Hypothesen oder Propositionen dar. Diese haben sich aus dem Forschungsprozess ergeben, insbesondere aus der Teilnahme an mehreren Heilungszeremonien, dem Prozess der Erhebung der Interviews, fünf mehrtägigen Workshops mit Simultanübersetzung, sowie einer ersten Diskussion der gesammelten Erfahrungen auf dem fünften Workshop (7.-11. Mai 2012) in Guatemala. Zu diesem Zeitpunkt war die Erhebung aller geplanten 65 Interviews abgeschlossen. Eine differenzierte qualitative und quantitative inhaltsanalytische Auswertung wird längere Zeit in Anspruch nehmen. Dies liegt insbesondere an dem herausfordernden Prozess, der notwendig ist, um die Daten verfügbar zu machen. Die in den fünf verschiedenen Maya Sprachen per Tonband erfassten Antworten sind von Sprachkundigen zu transkribieren und dann von Linguisten ins Spanische und anschliessend ins Englische so zu übersetzen, so dass die spezifischen Bedeutungen, welche z.B. medizinische Begriffe in den Maya Sprachen nehmen können, erfasst werden. Bei diesen Übersetzungen muss zudem auf die Hilfe der Priester (ajq’ij) oder der Leiter der Councils (Kamal) zurückgegriffen werden. Einige der in den Interviews zwischen den Interviewten und dem Interviewern geäußerten Begriffe sind den Linguisten nicht bekannt, etwa weil diese nur von Mayas auf der höchsten Hierarchiestufe genutzt werden oder weil sie spezifisches medizinisches Wissen repräsentieren. Aufbauend auf, und begleitend zu diesen Analysen soll dann das Krebsverständnis der Mayas in einem von den Maya Councils geleiteten Prozess beschrieben und in Bezug zu ggw. Krebstheorien gesetzt werden.

Das transdisziplinäre Team und Ko-Leitung
Auf der Seite der Wissenschaft gab es in der 1. Phase neben den wissenschaftlichen Leitern (Profs. R. W. Scholz & C. Renner, sowie M. Berger-Gonzales als Projektkoordinatorin) einen wissenschaftlichen Beirat (Profs. P. Kleihues, N. Probst-Henschler, R. Saller, B. Samuelsson, H. Walt, J. Zinsstag). Auf der Seite der Mayas wurde das Projekt durch eine kollektive Projektleitung mit Simeón Taquira Sipaq vom MCEG sowie den Oberhäuptern der folgenden fünf ethnolinguistischen Maya Gruppen geleitet: Kaqchilel (Estanilao Teleguario Yos), Kiché (Mario López Ixcoy), Mam (Rafael López), Mopan (Narciso Asij Cajbón). Die Projektsteuerung, die Diskussion und Konsentierung der Leitfrage, das Projektdesign einschliesslich der Auswahl der Interviewer und Interviewten, die Struktur der Fragebögen sowie Inhalt und Wortlaut der einzelnen Interviewfragen wurden in fünf Workshops diskutiert, die teilweise mit grossen Maya Zeremonien verbunden wurden. Auf Seiten der Mayas waren die Councils der fünf ethnolinguistischen Gruppen eingebunden und auf Seiten der Wissenschaft eine Reihe von Studierenden und wissenschaftlichen Hilfskräften der ETH Zürich und der Universität del Valle de Guatemala.

Das transdisziplinäre Projekt in der 1. Phase wurde von Don Taquira Sipaq und Prof. Scholz geleitet. Alle Entscheidungen bezüglich Projektplanungen, Anträgen, Finanzen etc. in dieser Phase wurden von der Maya-Projektleitung und der wissenschaftlichen Leitung im Konsensus gefällt. Ein besonderes Problem stellte hier der Schutz der Interviewdaten dar. Auch auf Grund ihrer Geschichte zeigen die Mayas eine besondere Sensitivität gegenüber dem Zugriff auf die erhobenen Interviewdaten. Diese stellen eine erste von den Mayas kontrollierte Dokumentation des medizinischen Wissens der Mayas dar, und es bestehen Bedenken, dass diese missinterpretiert, kommerziell oder in anderer Weise entgegen den Interessen der Mayas genutzt werden könnten. Dies führte zu einer Vereinbarung zwischen den Projektleitern, dass eine Veröffentlichung von Inhalten aus den Interviewdaten nur mit Zustimmung des Maya Ältestenrats erfolgen darf.

Reflektion über die Andersartigkeit der anderen Kultur
Schon bald nach Beginn des Projektes wurde deutlich, dass die fundamentale Andersartigkeit des Weltbildes (,cosmology’) und die damit verbundene Verschiedenheit von Beschreibungen und Erklärungen von Phänomenen, die zentrale Herausforderung des Projekts darstellt. Ein entscheidendes Element für den Erfolg von transdisziplinären Prozessen ist, dass in ihnen ein Verständnis der Andersartigkeit des Anderen explizit gemacht wird. Dies wurde im Rahmen des 2. Workshop vom 13.-14. Januar 2011, auf dem Gelände der historischen Stadt Tikal, zum Thema gemacht. Ein wesentliches Hilfsmittel stellte hier das ‚double emic-etic’ Prinzip[25] dar. Dieses geht davon aus, dass jede Kultur einen eigenen, tieferen inneren (emic) Kern besitzt, der sich nicht vollständig mit der (gesprochenen und geschriebenen) eigenen Sprache fassen lässt. Dies ist die ‚emic’- oder ‚insider’ Ebene. Die Beschreibung der Welt in der eigenen Sprache dient dazu, über diese (mit sich selbst und mit anderen dieser eigenen Kultur) zu reflektieren und kann zudem dazu genutzt werden, mit anderen mittels „Übersetzung“ der Sprache auf der ‚etic-Ebene zu kommunizieren. Sprache gehört also zur etic-Ebene und kann auch zur Selbstreflektion über das eigene Innere dienen. Um Einblick und „Verständnis“ in den inneren Kern einer anderen Kultur zu bekommen, bedarf es aber gemeinsamer Erfahrungsräume. Hier wurde die gegenseitige Teilnahme an Heilungsprozessen als wesentlicher Teil transdisziplinärer Prozesse als Möglichkeit gesehen. Eine Gruppe von drei Beiratsmitgliedern (Profs. Renner, Samuelson und Zinsstag) aus dem Bereich der Krebsforschung nahmen neben dem Autor an einer der Exkursionen teil, zu denen auch eine Teilnahme an Maya Heilungen gehörte. Umgekehrt wurde geplant, dass einige guatemaltekische Maya Heiler Kliniken in der Schweiz besuchen und „erfahren“ wie die onkologische Krebstherapie funktioniert.

Das heilige Feuer während der Maya Zeremonien

Maya Zeremonien sind häufig mehrstündige religiöse Rituale, in denen das zentrale Element das „heilige Feuer“ ist. Nach Aussagen der Ältesten stellen die Signale des Feuers die Grundlage für Entscheidungen des Ältestenrates dar. Zeremonien finden auch bei Heilungen statt. Aus den Zeichen des Feuers entnimmt der Heiler Zeichen über den Gesundheitszustand- und Verlauf. Interkulturelle transdisziplinäre Diskurse sind dadurch gekennzeichnet, dass grundsätzlich verschiedene religiöse und weltanschauliche Positionen aufeinandertreffen. Eine vielleicht entscheidende Komponente im Vertrauensbildungsprozess war vermutlich, dass das erkenntnistheoretische, epistemologische Interesse sehr akzeptiert wurde. Interessanter Weise war der Begriff Epistemologie vielen Maya Ältesten geläufig.

Von Seiten des Autors wurde die fundamentale Begrenztheit wissenschaftlichen Wissens im Allgemeinen und im Besonderen in der Medizin als Motivation für einen Prozess des wechselseitigen Lernens auf gleicher Augenhöhe betrachtet. Es wurde kommuniziert, dass man von der Hypothese ausgeht, dass die Maya-Therapie in einigen Typen und Entwicklungsstufen besser sei als die westliche Medizin und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund sei man daran interessiert, zu erforschen, was die Mayas warum über Krebsheilung wissen. Man kann sicher diese beiden Aussagen als eine Wertschätzung der Andersartigkeit des Anderen und dies als eine Voraussetzung von glaubwürdiger Zusammenarbeit (’authentic collaboration’) begreifen, welche als Grundkomponente erfolgreicher transdisziplinärer Arbeit anzusehen ist.

Ein zentraler Schritt ist die Erfassung des Wissens der Maya Heiler in den Bereichen Maya Religion und Weltanschauung, Medizinisches Wissen und Krebs. Dies erfolgt durch fünf mal 13 Interviews (13 Interviews pro ethnolinguistischer Maya-Gruppe).

Abbildung 4: Dieses Gruppenphoto zeigt Prof. Scholz mit dem Maya Team, nach der Zeremonie und dem 2. Workshop in Tikal am 13./14.1.2011

In der 2. Phase des Projekts soll dann in einem zweistufigen Prozess, d.h. zunächst innerhalb der Räte der ethnolinguistischen Gruppen der Mayas und dann zwischen den Gruppen der Mayas, in einem Konsensusprozess eine Art „ideales Wissens-, Glaubens- und Handlungsmodell“ von Heilung beschrieben werden. Dieses „ideale Maya Modell“ sollte dann mit den gegenwärtigen schulmedizinischen Krebsmodellen oder neuropsychologischen Modellen in Bezug gesetzt werden, in der Hoffnung, dass beide Seiten, die Mayas und die westliche Onkologie aus dem Verständnis der komplementären Zugänge ein erweitertes Verständnis von Krebs erhalten bzw. aufbauen.

Transdisziplinäre Konstruktion des Fragebogens
Eine wesentliche Erfahrung der 1. Projektphase war, dass Fragebögen zwar aus wissenschaftlicher Sicht inhaltlich und methodisch vorgeplant werden können, aber dass für eine Anwendung in einer anderen Kultur, Frage für Frage auf der Grundlage einer ,double-emic’ Perspektive konstruiert werden muss. Viele in einer Kultur geläufigen Begriffe wie z.B. System oder Metastasen sind in der anderen unbekannt.

Der Fragebogen enthielt insgesamt 130 Fragen aus 11 Teilen: 1. Ort und Teilnehmer (bei den Mayas sind z.B. Heilungsprozesse öffentlich und werden gemeinsam mit den Familienmitgliedern durchgeführt, somit war aufzuzeichnen, wer bei dem Interview dabei war); 2. Erfassung von Personendaten; 3. Wissen wichtiger Elemente der Maya Religion und ‚Cosmology’ einschliesslich der Frage „Warum erkranken Menschen?; 4. Angaben zu Spezialisierung der Maya Heiler; 6. Wissen über Krankheiten und Krebs; 7. Rollen von Heilern, Patienten und anderen in Heilungsprozessen, Behandlungsmethoden; 8. Evaluation des Heilerfolgs; 9. Korrekturen bei fehlendem Heilerfolg; 10. Wissen über Anatomie, Organe Zellen etc.; 11. Verständnis der Mayas von Krebs.

Bei der Konstruktion der Fragen ging ein Teil der Projektteam-Mitglieder davon aus, dass der Begriff ,Ajajpul Ajal Q’ana’’ – zumindest in einigen Maya Sprachen wie Kaqchilel – das bezeichnen würde, was in der westlichen Medizin als Krebs bezeichnet wird. Da viele Mayas sowohl bei Maya Heilern als auch bei Onkologen in Behandlung sind, wurde bei den Krebsfragen besonderer Wert darauf gelegt, zu erfragen, ob man Patienten kennen würde, welche die medizinische Diagnose Krebs hätten.

Durchführung der Interviews
Zur Vorbereitung der Interviews wurden für die Interviewer von Monica Berger-Gonzalez verschiedene Workshops durchgeführt, welche die Interviewer in die inhaltlichen und technischen Grundlagen der Interviewführung einführte. Von Seiten der Mayas wurde die Anzahl von 13 Interviews als wichtig erachtet, da die Zahl 13 in verschiedenen kalendarischen und religiösen Ordnungssystemen eine zentrale Rolle spielt. Die Durchführung eines geschlossenen oder hochstrukturierten Interviews mit Maya Heilern verläuft fundamental anders als mit westlichen Medizinern. Drei Punkte sind hier – neben der Barriere, dass die Heiler kein Englisch und in der Regel kaum Spanisch sprechen – von besonderer Bedeutung.

Abbildung 5: Alle fünf Maya Gruppen waren an der Fragebogenkonstruktion mitbeteiligt. Das Bild zeigt eine Vertreterin des Maya Ältestenrates der Mopan auf dem 3. Workshop, 25.-26. April 2011 in Guatemala City. Sie diktiert Don Simeon Taquira Verbesserungen zu einem Fragenblock, welche das Team der Mopans erarbeitet hat. Prof. Scholz war in der gesamten Diskussion durch Simultanübersetzung einbezogen.

Zum einen wird medizinisches oder religiöses Wissen „gefiltert“ kommuniziert. Was kommuniziert wird, hängt mit der Hierarchiestufe zusammen, welche der Interviewer in der Maya Hierarchie besitzt. Um „ungefilterte“ Informationen zu bekommen, muss somit der Interviewer ein ajq’ij und/oder ein Heiler sein. Ein Student oder westlicher Wissenschaftler als Interviewer würde keine sinnvollen Ergebnisse erzielen.

Zum zweiten bedarf es einer Vertrauens- und Bündnisbildung, welche mit einer ein (heiliges) Feuer beinhaltenden Zeremonie, hergestellt werden kann.

Zum dritten findet sich das zyklische Weltbild auch in den Diskursen der Mayas wieder. Diskurse und Reden behandeln ein Thema wiederholt in zyklischer Form. So ist es unmöglich, 130 linear angeordnete Fragen in einem Zug zu beantworten. Eine zeitliche straffe Planung lässt sich somit kaum realisieren.

Bei der Auswahl der Heiler wurde keine Zufallsauswahl vorgenommen, sondern vereinbart, dass jeder Council der fünf Maya Gruppen möglichst gute, als Maya Heiler bekannte Personen interviewt. Wie erste publizierte Analysen[26] zeigen, liegen sowohl bei der Auswahl als auch bei der Durchführung der Interviews deutliche Unterschiede zwischen den Maya Gruppen vor. Aus statistischer Sicht lassen sie sich vermutlich in dem Sinne als ein methodisches Artefakt bezeichnen, indem sie sich durch Unterschiede zwischen den Interviewenden und der Durchführung und nicht durch Unterschiede zwischen den Gruppen begründen. Es handelt sich aber bei der Untersuchung schlussendlich um eine qualitative Forschung. Statistische Zahlen dienen nur zur groben Beschreibung der Interviews und Interviewten. Eine wissenschaftliche Auswertung hat hier mit inhaltsanalytischen Methoden zu erfolgen, wobei zu überlegen ist, in welchem Maße partizipative Forschung zur Anwendung kommen muss, d.h. eine Interpretation der Texte nur unter Einbezug der Mayas möglich ist.

Erste Ergebnisse und Einsichten

Transdisziplinäre Prozesse müssen Voraussetzungen erfüllen
Die ersten zwei Jahre des Macocc Projekts haben gezeigt, dass ein transdiziplinärer Prozess zum Verständnis der spirituellen und pflanzlich-physikalischen Grundlagen des Heilungswissen der Mayas möglich ist, welcher mit anderen Methoden kaum denkbar ist. Als wesentliche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Durchführung, sind beim Macocc Projekt vermutlich folgende Punkte zu sehen:

(I) Starke Interessen an Zusammenarbeit: beide Seiten äusserten starkes Interesse an einer Zusammenarbeit und haben dieses mehrfach explizit und in voller Offenheit kommuniziert.

(II) Gleiche Augenhöhe, Akzeptanz der Andersartigkeit des Anderen und Empathie: Beide Seiten sind sich auf gleicher Augenhöhe, mit vollem Respekt und Wertschätzung der Andersartigkeit, begegnet und haben versucht, sich in das andere kulturelle System einzudenken.

(III) Glaubwürdige Ko-Leitung: Auf Grund der leidvollen Geschichte der Mayas mit der westlichen Kultur ist davon auszugehen, dass Misstrauen und Angst, ausgenutzt zu werden, eine zentrale Barriere der Zusammenarbeit mit westlichen Medizinern und Wissenschaftlern darstellt. Eine glaubwürdige, formale und reale Ko-Leitung, in der gesichert ist, dass beide Seiten nicht nur über die Ziele und Projektplanung entscheiden können, sondern auch bei Verwendung von Ressourcen und Daten gleichberechtigt mitsprechen können, ist hier als ideale Voraussetzung für einen erfolgreichen transdisziplinären Prozess zu betrachten.

(IV) Ein interkultureller Moderator: Das zentrale Ziel eines interkulturellen transdisziplinären Prozesses ist es, ein Verständnis des Weltbildes, der Werte, der Kausalbegründungen etc. von der anderen Kultur zu bekommen, oder in der Wissenschaftssprache ausgedrückt, sich der „Denkweise und Beschaffenheit“ (dem „Emics“) der anderen Kultur zu nähern. Der Umstand, dass mit Frau Berger-Gonzalez jemand an zentraler Stelle der Projektleitung mitwirkte, der beide kulturellen Systeme inkorporierte, erlaubte beiden Seiten eine Rekonstruktion der Absichten, Interessen. Prioritäten, Empfindsamkeiten, Voraussetzungen etc., unter denen eine Kollaboration bzw. Zugang zu der Kultur des Anderen möglich ist. Man kann hier vielleicht von einem interkulturellen Moderator sprechen, der in dem Projekt als Scharnier zwischen den beiden Wissenssystemen wirkte. Von Vorteil für die Bereitschaft der Mayas an dem Projekt mitzuwirken, war sicher auch, dass der Autor nicht einer stigmatisierten Gruppe, wie der guatemaltekischen Herrschaftsschicht oder dem, was als „Gringo“ bezeichnet wird, zugeordnet wurde.

Auswirkungen des Projekts auf das guatemaltekische Gesundheitswesen
Über das Maya Projekt konnte auch eine Brücke zur nationalen öffentlichen Krebsvorsorge in Guatemala gebaut werden. Diese wird derzeit nur durch ein einziges Institut gewährleistet, nämlich dem INCAN, einem 1957 auf private Initiative (ähnlich der Krebsliga), durch staatliche Mittel nur unzureichend finanziertes und von engagierten Ärzten (die für einen angemessenen Lebensunterhalt teilweise noch nachmittags eine eigene Praxis führen) getragenes Institut. Auch im Hinblick auf die geplante klinische Untersuchung in der dritten Phase wurde hier von Don Simeon Taquira und dem Autor Kontakt mit dem INCAN aufgenommen, und ist auf überraschend starke Zustimmung gestoßen.

Von Seiten der Direktoren des INCAN (siehe Abbildung 6) wurde berichtet, dass – obwohl rund die Hälfte aller Patienten Mayas sind – die Ärzte größte Schwierigkeiten in der Kommunikation mit diesen Patienten haben. Diese seien nicht nur durch die Sprachbarriere bedingt (keiner der ärztlichen INCAN Mitarbeiter spricht eine der Maya Sprachen und die meisten älteren Mayas sprechen kein Spanisch), sondern es herrscht auch eine grosse Verunsicherung darüber, wie begrenzt die klassische Krebstherapie von Maya Patienten angenommen wird.

Bemerkenswert an dem Kontakt mit dem INCAN war, dass alle Direktoren die Prinzipien des transdisziplinären Prozesses akzeptierten. Nach Aussage von Don Simeon war die Begegnung mit Dr. Walter Guerra und seinen Mitarbeitern die erste in der Geschichte der Mayas, in denen sie das Gefühl hatten, den Leitern einer Nationalen Einrichtung gleichberechtigt auf gleicher Augenhöhe (’authentic collaboration’) gegenüber zu stehen. Dies führte zu einer bemerkenswerten Folge von Ereignissen: Dr. Guerra wurde in den Projektbeirat aufgenommen, die Direktoren beschäftigten sich das erste Mal mit der Maya Therapie von Krankheiten und Krebs und nahmen an Maya Heilungsprozeduren teil. Es wurden Überlegungen gestartet, wie Mayas und Maya Heiler innerhalb des INCANs Funktionen bekommen könnten, um eine Brücke zwischen den beiden Kulturen und Heilungssystemen geeignet aufzubauen.

Abbildung 6: Bild des ersten Zusammentreffens von Don Simeon Taquira und Prof. Scholz mit den Direktoren des INCANs im Direktionszimmer von Dr. Walter Guerra, Leiter des INCAN.

Ein komplexer Datensatz für Jahrzehnte anthropomedizinischer Forschung
Die Interviews wurden im Frühjahr 2012 abgeschlossen. Der Prozess der Transkription und linguistisch hochstehenden Übersetzung wird eine lange Zeit benötigen und es ist offen, ob hierzu die geeigneten (finanziellen) Ressourcen zur Verfügung stehen.

Eine erste Einsicht in die 53 ins Spanische übersetzten Interviews im März 2012[26] zeigte, dass mit grossen Unterschieden zwischen den fünf enthnolinguistischen Gruppen zu rechnen ist.

So variiert die durchschnittliche Zeit der Interviews zwischen 7.4 und 25 Stunden, die durchschnittliche Anzahl der Besuche zwischen einem und fünf und die Zahl der in der spanischen Transkription den 130 Fragen zugeordneten Textpassagen zwischen 6000 und 34.500 Worten. In einer der Maya Gruppen konnte die Vorgabe, einen Interviewer auf der gleichen Maya Hierarchiestufe wie die der Interviewten zu finden, nicht realisiert werden. Dies spiegelt sich statistisch in den vorstehenden Zahlen aus. Es waren die Interviews mit den mit Abstand niedrigsten Zahlen. Dies beleuchtet quantitativ mit grosser Deutlichkeit den Informationsverlust, den man erwarten muss, wenn etwa ein (die Maya Sprachen beherrschender) Student die Interviews führen würde.

Das durchschnittliche Alter der Interviewten lag bei etwas unter 60 Jahren, in zwei Gruppen wurden etwa gleich viele männliche wie weibliche Heiler interviewt; in einer Gruppe überwiegend weibliche und in zwei Gruppen überwiegend männliche Heiler. Ob die berichteten Daten in Unterschieden zwischen den Heilern der Maya Gruppen begründet sind, oder ob diese lediglich Artefakte der Durchführung der Untersuchung sind, bedarf einer aufwendigen Abklärung.

Regionale Unterschiede im Wissen über und in der Bedeutung von pflanzlichen Heilmitteln
Pflanzen spielen in Heilprozessen bei allen Maya Gruppen eine Rolle. Auf der Grundlage der Workshop-Berichte ist jedoch deutlich, dass große regionale Unterschiede in der Art und Intensität der Nutzung vorliegen. Bei einigen Gruppen scheint ein hoch entwickeltes pharmazeutisches Pflanzenwissen vorhanden zu sein. So gibt es Heiler die mehr als 500 Pflanzen kennen und ihre medizinische Einsatzmöglichkeiten schriftlich notiert haben. In anderen Gruppen scheinen Pflanzen eine eher nachgeordnete Rolle zu besitzen. Dies gilt es näher abzuklären. Starke regionale Unterschiede zwischen den Maya Gruppen finden sich nicht nur im Bereich der Medizin, sondern auch in anderen Bereichen z.B. der Landwirtschaft. Die beiden Maya Gruppen Q’echi’ und die kleine Gruppe der Itzaj leben beide in der Region Peten, dem Nordosten Guatemalas. Anthropobiologen berichten, dass die Q’echi’ grossflächig Brandrodung (ca. 5 ha) betreiben und dann Milpa (Mais, Bohnen und Kürbis) nur einmal auf dem Land anbauen. Die Itzaj, hingegen, besitzen ein differenziertes, den Wald schützendes, Anbausystem (d.h. eine Polykultur) welches sich durch eine differenzierte Folge von bodenschonender, die Biodiversität erhaltender, nachhaltiger Anbaufolge auszeichnet[27].

„Rituelle Pflanzentherapie“ statt „Pflanzentherapie“
Pflanzen spielen sicher in der Heilungspraxis der Mayas eine große und in vielen Fällen – z.B. im Rahmen der beschriebenen Balance- und Gleichgewichtsprinzipien – eine zentrale Rolle. Aber Pflanzen werden vollkommen anders genutzt als etwa Zytostatika in der Krebstherapie. Dies betrifft sowohl die „Herstellung als auch die Anwendung des Medikamentes.“ Maya Heiler betrachten Pflanzen in gleicher Weise als Teil des Universums wie den Patienten selbst. Viele Heiler sprechen mit den Pflanzen und fragen vorher den „Creator“ (d.h. den Maya Gott) um Erlaubnis, bevor sie auf diese Zugriff nehmen. Und bestimmte Pflanzen werden von einigen Heilern nur zu bestimmten Zeitpunkten eingesetzt. Die Aufbereitung der Pflanzen erfolgt durch Rituale, d.h. festgelegte Handlungen mit hohem (religiösen) Symbolgehalt. Das gleiche betrifft die Applikation der Heilmittel, welche in aller Regel in Zeremonien eingebettet sind, in denen teilweise Tieropfer erbracht werden und in denen aus der Sicht der Mayas ein intensiver Diskurs mit dem Universum und den Göttern erfolgt. Wir gehen auf diesen Punkt noch im Abschnitt therapeutische Allianz ein. Wissenschaftlich zu hinterfragen ist, ob und unter welchen Voraussetzungen hier von einer pharmakologischen Wirkung der Pflanzen ausgegangen werden kann, insbesondere wenn wir an die Anwendung bei Krebs denken.

Es ist zweifelsfrei, dass Heiler viele Pflanzen bei bestimmten Krankheitserscheinungen oder für Beschwerden anwenden, die bestimmten Organen (Haut, Magen etc.) zugeordnet werden. Es wurde in der ersten Phase des Macocc Projektes nicht systematisch nach speziellen Pflanzen für eine einzelne Krankheit gefragt. Auch haben wir nicht erhoben, ob etwa einzelne Pflanzen bei verschiedenen Heilern bei der gleichen Krankheit eingesetzt werden und/oder Heilungserfolge zeigen. Dies wäre zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung zu machen. Wir können jedoch an dieser Stelle schliessen, dass man bei den Mayas nicht einfach von Pflanzentherapie sprechen darf, sondern dass es sich hier um eine rituelle Pflanzentherapie handelt.

Spirituell gerahmte therapeutische Allianz
Heilungsprozeduren sind bei den Mayas – in aller Regel – mit Zeremonien verbunden, bei denen das „heilige Feuer“ eine grosse Rolle spielt. Aus unserer Sicht könnte man sagen, dass das Feuer den Heiler in seinen Handlungen autorisiert und somit – aus der Sicht der Mayas – durch die Zeremonie eine therapeutische Allianz zwischen Patient, Heiler und den zum Einsatz kommenden Heilmitteln, Tieropfern und rituellen Gegenständen hergestellt wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vermutlich, dass Heilungen häufig öffentlich sind und im Beisein und unter Einbezug der gesamten Familie stattfinden. In Heilungen, an denen dieser Autor selbst teilnehmen durfte, wurden Familienmitglieder in Ansprache und Handlungen (z.B. anfassen) einbezogen. In unserer Sprache würde man dies vielleicht metaphorisch als „die Familie fiebert mit“ bezeichnen. Die Teilnahme an verschiedenen Heilprozeduren legen nahe, dass in diesen eine hohe Fokussierung auf die Krankheit vorgenommen wird. Ob dies der Fall ist und hier die Zeremonie im Sinne eines ‚Arousals’ (d.h. Aktivierung) oder gar einer Immunstimulanz vorliegt, oder ob hier auf einer möglichweise näher zu beschreibenden Weise der Fokus auf den Diskurs mit bösen und guten Geistern liegt, kann der Autor nicht entscheiden.

Können Mayas gutartige von bösartigen Tumoren unterscheiden
Aus wissenschaftlicher Sicht ist Krebs ein Sammelbegriff, in dem Zellen unkontrolliert wachsen (Infiltration) und gesundes Gewebe verdrängen oder zerstören (Destruktion), eine überlange Lebenszeit besitzen (geschützt vor natürlicher Apoptose), hohe Ressourcen benötigen (veränderter Metabolismus, gesteigerte Angiogenese) und sich über Blut- und Lymphgefässe verbreiten (Metastasierung). Eine offene Frage im Macocc Projekt war, ob die guatemaltekischen Maya Heiler über einen spezifischen Krebsbegriff verfügen und zwischen gutartigen und bösartigen Tumoren unterscheiden können. Diese Frage ist insbesondere vor dem Hintergrund interessant, dass die heutigen Maya Heiler im Prinzip keine chirurgischen Eingriffe kennen, obwohl historische Dokumente indizieren, dass in der Hochkultur der Mayas kleine medizinische Eingriffe und grosse Eingriffe wie Herzentnahmen für Opfergaben vorgenommen wurden.[17]

Im 4. Workshop, nach Durchführung der Interviews, konnte die Frage, ob es genuines Maya Wissen über Krebs gibt, nicht eindeutig geklärt werden. Bei einem grossen Teil der Heiler war offenbar kein spezifisches aus der Maya Tradition und dem Begriff ,Ajajpul Ajal Q’ana’’ zuordnungsbares Wissen über Krebs vorhanden. Es wurde aber vermutet, dass bei einer der Gruppen die Hälfte der Heiler sehr wohl ein Verständnis dafür haben könnten. Dieser Frage muss mit einer differenzierten linguistischen und inhaltsanalytischen Studie beantwortet werden.

Gemäss dem transdisziplinären Zugang im Macocc Projekt werden bei dieser Analyse auch die Ältesten beteiligt. Wie erwähnt, nutzen die Maya Ältesten das Projekt dazu, um eine Rekonstruktion des medizinischen Wissens vorzunehmen. Wir sehen mit Spannung dem Ergebnis dieses Rekonstruktionsprozesses entgegen. Sollten Mayas zwischen malignen und benignen Tumoren unterscheiden, so bedarf es selbstverständlich eines onkologischen Abgleichs oder einer histopathologischen Verifizierung.

Das Mehr-Ebenen Konzept von Krebs
In diesem Absatz wird der Umriss einer psychoneuroonkologischen Konzeption skizziert, welche sich aus dem Zusammenspiel von grundlagentheoretischen Betrachtungen und den Erfahrungen aus dem transdisziplinären Macocc Projekt entwickelt hat. Die Ausführungen setzen nicht voraus, dass die Mayas Krebs bestimmen oder valide diagnostizieren können. Wir nehmen lediglich an – was etwa durch klinische epidemiologische Untersuchungen zu verifizieren wäre – dass die Maya Therapie erfolgreich ist und beschreiben einen Weg, mit dem sich dies mit Hilfe eines – Mehr-Ebenen Konzeptes von Krebs – wissenschaftlich erklären liesse.

Das vorgeschlagene Mehr-Ebenen Konzept erweitert die neuropsychoimmunologische Grundannahme, die sich auf die Wechselwirkung zwischen dem Mind eines Individuums, welches über das Nervensystem und dem endokrinen System mit dem Immunsystem interagiert. Es wird eine dritte Ebene eingeführt. Diese ist die Arzt-Patienten Beziehung. Wir nehmen an, dass diese Beziehung das Befinden des Patienten und damit verschiedene Prozesse im Zentralen Nervensystem und anderen für das Immunsystem relevanten Systemen beeinflusst (siehe Abbildung 7). Diese Annahme bzw. Forschungshypothese wird auch durch Erfahrungen des Macocc Projekts motiviert. Wir konnten bei den Mayas beobachten, dass die ,Arzt’-Patienten Beziehung eine besonders intensive Qualität erlangt. Heiler und Patient nehmen Bezug auf ein gemeinsames, tief verwurzeltes spirituelles Weltbild und auf Annahmen über das Wirkungsgefüge der Entstehung und Heilung von Krankheiten. Dabei wird die Entstehung von Krankheit aus einer Disharmonie des Patienten mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt erklärt. Eine Maya Heilung ist ein Prozess, in dem die Ursachen der Disharmonie gesucht und identifiziert werden. Die Therapie besteht darin, ein aus der Sicht der Mayas gestörtes Gleichgewicht durch einen spirituellen Prozess wiederherzustellen. Wird dieses auch vom Patienten empfunden (hier sprechen wir den Mind an), so kann dies – wissenschaftlich ausgedrückt – auf der Ebene des Patienten zu einer veränderten neuronalen Aktivierung des kognitiven Systems führen. Diese veränderte Aktivierung kann im Zentralen Nervensystem d. h. dem Gehirn oder dem ,Body’, bestimmte Prozesse auslösen (siehe Ebene 2 in Abbildung 7). Die Aktivierung im Nervensystem führt etwa zur Ausschüttung von Hormonen und Zytokinen, die das Immunsystem beeinflussen. Zytokine sind Peptide, d.h. kleine Proteine, die aus Verbindungen von Aminosäuren bestehen, welche die Aktivitäten im endokrinen System, im peripheren Nervensystem und im Immunsystem beeinflussen. Dies entspricht dem Grundmodell der Psychoneuroimmunologie[21] und erklärt eine positive oder negative Auswirkung der (nichtmedikamentösen) Arzt-Patient Beziehung.

Abbildung 7: Die Mehr-Ebenen Mind-Body Konzeption der Ätiologie von Krebs

Diese Kurzbeschreibung des Mehr-Ebenen Modells führt zu drei Fragen, die wir kurz behandeln wollen. Erstens, was genau ist eine Mind-Body Beziehung in der Arzt-Patienten Beziehung? Zweitens, welche physiologischen, molekularen biochemischen Prozesse sind wissenschaftlich bekannt, um diese Interaktion (auf der Ebene des Body) zu beschreiben? Und drittens, welche Forschungsfragen müssten beantwortet werden, oder, wie sähe eine profunde naturwissenschaftliche Forschung aus, um die Validität dieser Annahmen zu beschreiben, d.h. etwa eine positive oder negative Auswirkung der (nichtmedikamentösen) Arzt-Patient Beziehung.

Wir wissen aus der Kleingruppenforschung[10], dass es in Gruppen bewusste und unbewusste Regeln und Mechanismen gibt, welche die Interaktion, das Verhalten und Erleben der Gruppenmitglieder beeinflussen. Wir sprechen hier von Gruppennormen, (impliziten) Entscheidungs- und Verhaltensregeln, Gruppendruck, Mechanismen der Selbst- und Fremdwahrnehmung usw. Wir betrachten diese Regeln als den ’Mind’ einer Gruppe. Der ’Body’, d.h. die materiellen und biophysikalischen Strukturen einer Gruppe bestehen aus den physiologischen Prozessen in den Körpern der Gruppenmitglieder sowie den materiellen-biophysikalischen Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern. Dazu gehören Schall- und Lichtwellen der Kommunikation, Berührungen, Medikamentenverabreichung etc. Obwohl nun die Beziehung zwischen der therapeutischen Allianz und dem Patienten als Mitglied dieser materiell sind, wirkt das immaterielle Gruppengefüge sich indirekt auf das Erleben des Individuums, d.h. den Mind des Individuums/Patienten aus. Dies wird durch den gestrichelten Pfeil zwischen der ersten und zweiten Ebene rechts dargestellt.

Die Arzt-Patienten Beziehung kann als Kleingruppe (Dyade) aufgefasst werden. Aber zur therapeutischen Allianz bei den Mayas gehören auch die mit der Krankheit konfrontierten und in den Heilungsprozess einbezogenen Familienmitglieder[28]. Nimmt man an, dass Patient und Arzt (und die Familienmitglieder) die spirituellen Regeln der Mayas über Entstehung von Krankheiten teilen, so wird die therapeutische Allianz von einem gemeinsamen Referenzsystem getragen, welches Empfinden, Emotion, Aktivierung (Arousal) und Verhalten beeinflusst. Natürlich werden auch Wahrnehmung, Selbstbeobachtung und das Aktivierungsniveau des Patienten durch diese Prozesse beeinflusst. Die basalen Annahmen des Mehr-Ebenen Modells lauten, dass die in der therapeutischen Allianz wirkenden spirituellen und kulturellen Regeln auf das Empfinden und die damit verbundenen neuropsychologischen Prozesse wirken.

Die zweite Frage bezog sich auf die neuropsychologischen Prozesse. Gut bekannt ist, dass die Wahrnehmung oder Kognizierung von bedrohlichen Gefahren aus der Umwelt das zentrale Nervensystem veranlasst, Starter-Moleküle („neuro-effectors“ wie Noradrenalin) über die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse, pituitary gland) zu emittieren, die in der Nebenniere (‚adrenal gland’) physiologische Prozesse einleitet, welche die Aktivität des Immunsystems verändern. Das Endokrine System ist im gesamten Körper mit dem peripheren Nervensystem und damit mit dem Gehirn und dem zentralen Nervensystem verbunden. Von Bedeutung sind hier auch Zytokine, d.h. Proteine wie Interferone oder Interleukine, deren Produktion die Aktivität des Immunsystems steuern[29]. Gut untersucht ist die Bedeutung von (dauerhaftem) Stress auch in seiner Wirkung auf Krebs[21, 30, 31]. Zu beachten ist, dass sich die negativen Auswirkungen von Umweltbedingungen auf den Gesundheitszustand offenbar leichter beschreiben lassen als die positiven.

Bemerkenswert ist, dass wir in den letzten Jahren – ausgehend von den eingangs geschilderten Ansätzen von Cohen und Matzinger – eine Vielzahl von Beiträgen in hochstehenden Zeitschriften wie Nature Reviews Immunology[32], Nature Reviews[29] oder Lancet[21] finden, welche das Wirkungsgefüge zwischen kognitiven Prozessen und Prozessen im Zentralen Nervensystem zugleich zellbiologisch-genetisch wie systemisch beschreiben. Auch finden sich Studien, die zeigen, dass Stress weniger auf die Geschwindigkeit des Wachstums des Primärtumors als auf die Metastasierung wirkt[33]. Die Befundlage hier ist nicht einheitlich; es gibt auch Untersuchungen, welche positive Wirkungen von bestimmten Formen von Stress auf die Immunaktivität indizieren. Will man die Wirkung einer Maya-Krebs Therapie beschreiben, so ist es wichtig zu verstehen, welche Teile des Gehirns (wie z.B. Hypothalamus, Amygdala, Hippocampus) in welcher Weise von anderen Informationsverarbeitenden Gehirnteilen (z.B. dem Präfrontalen Kortex, Cingulären Kortex) aktiviert werden, um relevante Aktivitäten zur Krebsabwehr im Immunsystem auszulösen. Heute ist klar, dass hier z.B. verschiedene Interleukine und Interferone für zellexterne (z.B. bakterielle) oder zellinterne (z.B. virale) Abwehr von Bedeutung sind. Es sind also erste psychoneuroimmunologische Zugänge gefunden und man kennt aus Laborversuchen Interleukine, welche zur Elimination von Krebszellen führen[32].

Um nun aufzuzeigen, ob eine Maya Therapie positive Wirkung auf die Krebsheilung besitzt – und hiermit kommen wir zur dritten Frage – muss man einerseits wissen, unter welchen Bedingungen das Immunsystem Krebstumorzellen erkennt und/oder in deren Ausbreitung oder Metastasierung interveniert. Andererseits sollte man wissen, welche (Gefahren-)Signale von Krebszellen Immunzellen zur Elimination der malignen Tumorzellen aktivieren. Würde man dies kennen, so ließe sich mittels klinischer Untersuchungen prüfen, welche psychoneuropsychologischen Prozesse dazu beitragen, gute Bedingungen für die Arbeit des Immunsystems zu schaffen. Genau an dieser Stelle ist die onkologische Grundlagenforschung gefordert. Es braucht Modelle, die erklären, wann und unter welchen Bedingungen welche Signale von Krebszellen als Gefahrensignale für den Organismus aufgenommen werden. Wir stoßen auf Fragen, ob hier das angeborene oder das adaptive Immunsystem entscheidend ist und welche Signale von Krebszellen Aktivitäten hervorrufen. Wird die Struktur/Faltung der Zelle als fremdartig und bedrohlich angesehen oder hat das Immunsystem ab einer bestimmten Stufe Zugang zu den Mutationen der DNA; und wenn ja, wann und unter welchen Bedingungen wird dies erkannt. Zu erklären wäre also, vereinfacht ausgedrückt, dass durch Maya Therapie bei den Patienten neuroendokrine Prozesse oder Zytokin Produktion induziert werden, welche messbar mit der Einschränkung und Ausbreitung von Krebszellen verbunden sind. Dies ist ein hoch anspruchsvolles Programm, zeigt aber einen Weg auf, wie sich Wirkungen von Maya oder alternativer Krebstherapie mit klassischen naturwissenschaftlichen Methoden nachweisen liessen. Neuere Publikationen über die positive Wirkung von Akkupunktur auf die Aktivierung von natürlichen Killer Zellen indizieren, dass man bei diesem Forschungsprogramm zu positiven Wirkungen kommen kann[34].

Forschungsperspektiven

Wir schliessen diesen Artikel mit vier Propositionen und Folgerungen, welche Optionen aufzeigen, wie ein umfassenderes Verständnis der Vielschichtigkeit und Ätiologie von Krebs wissenschaftlich erarbeitet werden kann.

Krebs aus entwicklungsgeschichtlicher und systemischer Perspektive betrachten.
Krebs ist ein ,evolutionäres Erbe’ und begleitet die Entwicklung höherer Lebewesen und der Menschheit. Inzidenz und Ätiologie von Krebs hängen von Veränderungen der materiellen-biophysikalischen und sozialen Umwelt ab. Das Verständnis sowie die wissenschaftlichen Theorien und Modelle von Krebs befinden sich in einer fortlaufenden Entwicklung. Das gegenwärtige schulmedizinische Modell (auch ‚somatic mutation theory’ genannt,[1, 35, 36]) beschreibt Krebs als eine Folge von genetischen Veränderungen. Das Modell oder dieser theoretische Ansatz hat großartige Einsichten in basale molekulare Prozesse der Krebsgenese erbracht. Aus systemtheoretischer Sicht problematisch ist jedoch, dass man für ein Verständnis der Entstehung von Krebs auch die Systeme oberhalb der Zellebene, d.h. ‚supracelluar’, zellsystem- und gewebsbezogene Systeme betrachten sollte[35]. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man Krebs nicht als Erkrankung der Zelle begreift, sondern als eine Entwicklung von Zellsystemen, die sich aus einer Vielschichtigkeit und Interaktion hierarchischer ordnungsbarer Prozesse auf den Ebenen Zelle, Zellsystem/Gewebe, Organ, Individuum sowie höherer humaner Systeme, wie Gruppe (z.B. therapeutische Allianzen) oder Kultur und Gesellschaft ergibt.

Integrative Krebsforschung ist interdisziplinäre Forschung
Das Krebskonzept der Mayas ist aus medizinhistorischer, ethnomethodologischer, ethnobiologischer, phytotherapeutischer, anthropologischer und vielen anderen Perspektiven von Interesse. Wie dargelegt, kann das Studium der nach wie vor praktizierten traditionellen Maya Medizin auch aus ‚psycho-immuno-onkologischer’ Sicht Bedeutung bekommen. Aber auch dieser wenig gebrauchte Begriff wird der Vielschichtigkeit der Ätiologie, so wie wir sie heute aus interdisziplinärer Perspektive kennen, nicht vollkommen gerecht, denn er bildet die wichtige Mind-Body Beziehung nicht angemessen ab. Wir müssten eher von einer ,psycho-neuro-immuno-onkologischen’ Perspektive sprechen. Wenn wir aber zudem die Ebene der Arzt-Patienten Beziehung einbeziehen wollen, wird es noch vielschichtiger und wir müssten mit dem überkomplexen, aber vermutlich trefflichen Begriff ,sozio-psycho-neuro-immuno-onkologische’ Perspektive arbeiten. Da dies aber nun ein schwer verdauliches Wortungetüm ist, können wir es viel einfacher haben, wenn wir hier schlicht von Integrativer Krebsforschung sprechen, wohl wissend welche Ebenen und Prozesse sich hinter ‚integrativ’ verbergen.

Krebs sollte somit als multi- und interdisziplinäre Forschung betrachtet und erforscht werden. Wichtig ist hier, der biologischen Natur der verschiedenen Systeme, welche lernen und interagieren, angemessen Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund ist die Maya Konzeption und Therapie von Krankheiten und Krebs von Interesse, da diese als ein Beispiel, eine Art ‚Paradigma’ oder als ein Lernbeispiel für eine anders gelagerte Auffassung von Krebs dienen kann. Selbstverständlich ist hier abzuklären, ob die Maya Behandlungen eine nachweisbar positive Wirkung besitzen. Betrachtet man die Verschiedenartigkeit und die Vielschichtigkeit von Krebs sowie die in der ersten Phase gewonnenen Eindrücke, so scheint die Forschungshypothese, dass die Maya-Therapie für bestimmte Typen und Stufen von Krebs der schulmedizinischen Therapie („schneiden, verbrennen, vergiften“) überlegen ist und umgekehrt, eine herausforderungsvolle, aber auf den zweiten Blick vermutlich passende Hypothese.

Transdisziplinäre integrative Krebsforschung
Das Macocc Projekt hat gezeigt, dass die Krebsforschung bei den Mayas transdisziplinärer Forschungsmethodik bedarf, um die Erklärungsmodelle der Entstehung oder die Therapie der Mayas zu verstehen. Wir sprechen hier von einer interkulturellen transdisziplinären Forschung, in der verschiedene Weltbilder mit unterschiedlichen Erklärungsgefügen gegenüberstehen. Auf der einen Seite sehen wir die Maya ,Cosmology’ (wir verstehen hier den Begriff Kosmologie breiter als die physikalisch-astronomische Ebene als Modell der basalen Kausalitäten in Natur- und Sozialsystemen) und auf der anderen Seite das auf der propositionalen Logik und empirischer Evidenzen aufgebaute Wissenschaftsmodell. Eine In-Beziehung-Setzung solch unterschiedlicher Arten von Wissen, d.h. Epistemiken, verlangt besonderer Prozesse des gegenseitigen Verständnisses, in denen Empathie und Seitenwechsel[37] zentrale Elemente sind, die aber selbst besonderer selbstreflektierender Prozesse bedürfen. Wir haben den Prozess des wechselseitigen Bewusst-Werdens über die Andersartigkeit des Denkens des Anderen mit Hilfe des „double emic-etic“ Prinzips unterstützt. Beiden Seiten, den Wissenschaftlern und den Mayas, wurde deutlich gemacht, dass sie über Logiken, Wissensgrundlagen, Erfahrungen und Verständnis verfügen, die grundsätzlich anders sind als das ‚emic’ oder Innere der anderen Kultur. Hier ist der wechselseitige Respekt vor und die Akzeptanz der Andersartigkeit des Anderen von Bedeutung. Dies verlangt schlussendlich anzuerkennen, dass in einigen Aspekten die eine Seite (z.B. die Praxis) besser Bescheid weiss und in anderen Aspekten die andere Seite (z.B. die Wissenschaft) und umgekehrt. Ziel sollte es sein, mit transdisziplinären Prozessen, in denen das Potential verschiedener Epistemiken genutzt wird, komplexe, vielschichtige von Kontexten abhängige Probleme, besser zu verstehen. Und Krebs ist ein gutes Beispiel für ein solches Problem.

Body-Mind Beziehungen auf mehreren Ebenen
Um die Vielschichtigkeit von Krebs aus der Sicht der integrativen Krebsforschung in den Griff zu bekommen, bedarf es strukturierender Konzepte, welche helfen, das wissenschaftliche Wissen über die Systeme, welche für die Krebsätiologie relevant sind, zu nutzen und in Beziehung zu setzen. Mit Hilfe dieser Konzepte lässt sich das, was wir „disziplinenbasierte Interdisziplinarität“ (‚disciplined interdisciplinarity’) nennen, entwickeln. Und wir können der Komplexität von Krebs vermutlich besser gerecht werden. Um zu skizzieren, wie dies möglich ist, haben wir – vereinfacht – eine Drei-Ebene Mind-Body Konzeption skizziert. Auf erster Ebene wird die Arzt-Patienten Beziehung repräsentiert. (Potentielle) Wissenschaftliche Disziplinen sind hier Angewandte Sozialpsychologie, Kommunikationstheorie oder Psychoonkologie. Leider ist das Wissen, hier unter der für die Arzt-Patient-Beziehung bei Krebs wichtigen Aspekte, wohl sehr schwach entwickelt[38]. Auf der zweiten dargestellten Ebene des Individuums ist von der physiologischen Seite die Medizin und von der psychologischen Seite die klinische Psychologie oder die Psychoonkologie bedeutsam. Wir finden hier einiges Wissen, insbesondere über die Wirkung von Stress oder negativen Einflüsse. Auf der dritten skizzierten Ebene finden wir das Immunsystem, den primären Antagonisten des Krebsgewebes oder Krebstumors. Hier gibt es mit Immunologie, Zell-, Molekular- und anderen Bereichen der Biologie, Onkologie, Hämatologie etc. eine Vielzahl von hochstehenden, gut entwickelten Forschungsbereichen, die viel Wissen über die physiologischen Prozesse in Zellsystemen, insbesondere dem Immunsystem liefern. Selbstverständlich könnte in Abbildung 7 an der Stelle des Immunsystems auch das Krebsgewebe stehen. Und man könnte eine vierte Ebene, diejenige der (singulären) Zellen anführen, da Zellen als Grundelemente des Lebens aufgefasst werden. Wir folgen an dieser Stelle systemtheoretisch orientierten biologischen Forschern, wie Irun Cohen, und postulieren – zumindest für bestimmte Zellen – einen Mind. Dies wird der Auffassung gerecht, dass Zellen lernend, adaptiv Entscheidungen fällende Organismen sind, die in Abhängigkeit von Umweltinformationen oder Signalen, abhängig von ihrer „Lebensgeschichte“ reagieren. Um dies zu beschreiben, braucht es Annahmen darüber, welche Information aufgenommen und wie verarbeitet wird, oder anders ausgedrückt, es braucht auch ein Modell der Entscheidung oder des Minds auch auf der Ebene der einzelnen Zelle.

Wir denken, dass mit diesem Artikel aufgezeigt wird, warum Forschung zur Maya Medizin Bedeutung besitzt, warum es am Beispiel der Maya Krebsforschung – aber sicher auch in andern Gebieten der Medizin – transdisziplinäre Forschung braucht, wie integrative Medizin zu einem hochstehenden wissenschaftlichen Gebiet werden, disziplinär abgestützt werden kann und wie somit eine ,integrative Onkologie’ – wir wollen uns ja bemühen das Wortungetüm Sozio-psycho-neuro-immuno-onkologie nicht zu nutzen – eine gute Zukunft bekommen könnte.

Danksagung

„We want to give something to the world“. Dies war die Botschaft, die Don Cirilo Oxlaj Perez dem Autor dieses Papiers vermittelte als mit ihm die Idee eines transdisziplinären Projekts besprochen wurde. Mein Dank gilt somit in allererster Linie den Mayas, die in einem zweijährigen Prozess den beschriebenen transdisziplinären Prozess möglich machten. Mein Dank geht in besonderer Weise an Monica Berger Gonzales, die in dem gesamten Prozess als Scharnier zwischen meinem eigenen oberflächlichen Verständnis der Mayas und dem umfangreichen Wissen der traditionellen Maya Kultur wirkte. Diese Arbeit wäre ohne die finanziellen Mittel der Cogito Stiftung, die Unterstützung durch das Bundesamt für Bildung und Wissenschaft, die Schweizer Botschaft in Guatemala City, welche eine für die Durchführung wichtige Patronage übernahm, die Schulleitung der ETH, welche für das Macocc Projekt einen Kooperationsvertrag mit der Universität el Valle de Guatemala abgeschlossen hatte und die intensive Unterstützung der Direktoren des nationalen Krebsforschungsinstituts INCAN, Guatemala City sowie die Beratung des wissenschaftlichen Beirats in methodischen und medizinischen Fragen nicht denkbar. Ihnen sei an dieser Stelle gedankt. Ich möchte weiterhin Profs. Christoph Renner (Universitätsspital Zürich), Eva Schernhammer (Harvard School of Public Health), Dr. Christiane Roth (Gockhausen, Schweiz), für die Durchsicht des Manuskriptes und Maya Scholz für die vielen Diskussionen danken, die geholfen haben, dem komplexen Inhalt des Projekts eine erste Struktur zu geben.

 

Roland W. Scholz (geb. 1950)

Diplom-Mathematiker (Universität Marburg), promovierter Sozialpsychologe und habilitiert in Kognitionspsychologie (Universität Mannheim), seit 1993 ordentlicher Professor für Umweltnatur- und Umweltsozialwissenschaften, Privatdozent für Psychologie an der Universität Zürich und Professor an den Universitäten of British Columbia, Vancouver/Canada und Stellenbosch/Südafrika. 2000 wurde Prof. Scholz von den Schwedischen Akademien der Wissenschaft zum King Carl Gustav Professor gewählt. Prof. Scholz gilt als einer der Väter transdisziplinärer Forschung. Er ist Autor von über 300 wissenschaftlichen Beiträgen, 8 Monographien sowie Herausgeber von über 20 Büchern.

 




Literaturquellen:

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