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Medizin braucht Musik!

Thomas Schröter,
Dipl.-Sozialpädagoge, Musiktherapeut DMtG, Psychotherapie HP

Die Verbindung von Medizin und Musik hat eine jahrtausendalte Tradition. Musik findet sich auch heute noch in den Heilritualen fast aller Völker. Auch die Bibel berichtet vom Einsatz von Musik zu Heilzwecken. Bis zum 17. Jh. waren Ärzte auch Musiker und die musikalische Ausbildung war Teil des medizinischen Studiums. Diese Tradition war mit der Entwicklung der Medizin von der Heilkunst zur Heilkunde abgebrochen. Man konzentrierte sich auf Messbares, technisch Machbares und medikamentöse Therapien. Damit passte Musik, als starker Träger von Emotionen, nicht mehr in den Klinikbetrieb. Doch die ganzheitliche Medizin ist dabei, diese alte Wurzel der Heilkunst wieder zu entdecken. In den letzten 30 Jahren haben zahlreiche Studien die signifikante Wirkung von Musik auf den Organismus erforscht. Hier ist vor allem die groß angelegte Forschungsreihe zur Wirkung von Musik auf das Schmerzempfinden von Prof. Ralph Spindtke aus Hamburg erwähnenswert. Er konnte nachweisen, dass mit Hilfe von Musik erhebliche Einsparungen von Schmerzmitteln (bis zu 50%) und Beruhigungsmitteln (bis zu 100%) möglich sind. (Spindtke 2000)

Die positiven Ergebnisse haben mit dazu beigetragen, dass die Musiktherapie in Deutschland seit 2005 ein Regelverfahren innerhalb der multimodalen stationären Schmerztherapie ist und in den Fallpauschalenkatalog für stationäre Leistungen aufgenommen wurde. Seit einigen Jahren gibt es am Deutschen Musiktherapieforschungsinstitut eine Weiterbildung für Musiktherapeuten zum „musiktherapeutischen Schmerztherapeuten“.

Ebenso hervorzuheben ist eine 2011 durchgeführte Metaanalyse zur psychologischen und physiologischen Wirkung von Musiktherapie in der Onkologie. Die unübersehbaren signifikanten Effekte, vor allem in Bezug auf die Reduzierung von Ängsten, haben dazu geführt, dass in Deutschland die Musiktherapie in der neuen S3-Leitlinie Psychoonkologie, für Menschen mit Krebserkrankungen empfohlen wird.

Die Besonderheiten der Musiktherapie liegen in der therapeutischen Nutzung der primär nonverbalen Kommunikation und der emotionalen Expression, wobei dabei der ganze Mensch in seinen Empfindungen, Gefühlen und Einstellungen betrachtet wird. Daher kann Musiktherapie während des gesamten Krankheitsverlaufs als begleitende Therapie zum Einsatz kommen, sowohl in der Rehabilitation und der ambulanten Nachsorge, als auch in der Akut-, Palliativ- und Hospizversorgung. Zu erwähnen ist noch, dass in Österreich seit 2008 die Musiktherapie durch ein Musiktherapeutengesetz berufsmäßig geregelt ist.

Musiktherapie gegen Schmerz und Angst

Mit Musiktherapie kann die körperorientierte Schmerzbehandlung wirkungsvoll ergänzt werden. Besonders chronische Schmerzen lassen sich mit Musik positiv beeinflussen. Bei ganzheitlicher Betrachtung zeigt sich Schmerz als ein multidimensionales Phänomen, das den Menschen, ähnlich wie die Musik, körperlich, seelisch, sozial und spirituell erfasst. Starke Schmerzen ziehen häufig die ganze Aufmerksamkeit auf die Körperregion und färben die Befindlichkeit emotional negativ. Die Folgen sind Angst, Depression und Ärger mit entsprechenden dysfunktionalen Gedanken, sozialem Rückzug und Schmerzvermeidungsverhalten. Als psychodynamische Begleiterscheinung tritt bei chronischen Schmerzen in gewisser Weise eine Erstarrung ein. Diese spiegelt sich bei Patienten auch in einer Einschränkung ihres emotional-expressiven Ausdrucks wider. (Hillecke 2005)

Musik hingegen tritt dem auf unterschiedlichen Ebenen entgegen. Sie wirkt bereits im Unterbewusstsein regulatorisch, z.B. wenn sie in einem Spielfilm Spannung erzeugt, im Kaufhaus zum Kaufen anregt oder in der U-Bahn beruhigt. Musiktherapie nutzt gezielt Klänge, Töne, Rhythmen und Schwingungen, um über eine Flexibilisierung des emotional-expressiven Ausdrucks Wohlgefühl und Entspannung zu erreichen. Gezielt eingesetzt können so über die Veränderung der Wahrnehmung und des Erlebens willkommene, schmerzstillende regulatorische Prozesse in Gang gesetzt werden. Im aufnahmebereiten Zustand und in der entspannten Konzentration treten Schmerzen, Ängste und die damit einhergehenden kreisenden Gedanken in den Hintergrund. Stattdessen tun sich in der Musik häufig positiv geladene innere Bilder und Empfindungen auf und erzeugen Wohlbefinden. Diese repräsentieren eine schmerzfreie zeit- und raumlose Präsenz, die im Alltag von Schmerzpatienten häufig nicht mehr erfahren wird.

Welche Art von Musik ist therapeutisch sinnvoll?

In der Musiktherapie gibt es keine richtige oder falsche Musik und schon gar nicht eine Musik, die jedem gleich gut tut. Es geht vielmehr um „Stimmigkeit“. Man kann davon ausgehen, dass die Wirksamkeit von Musik mit einer erhöhten Wahrnehmungsbereitschaft des Hörers und einer größeren Spezifizierung der Musik zunimmt. Je besser die Musik auf den Patienten abgestimmt ist und je besser dieser sich der Musik hingeben kann, desto wirksamer ist sie. Dementsprechend ist die Wirkung von Musik am stärksten im Beisein eines zugewandten Therapeuten, der die von Musik geprägte Biografie des Patienten berücksichtigt.

Besonders wirksam ist Musik, die vom Patienten nicht nur auditiv mit den Ohren, sondern auch vibrotaktil mit dem ganzen Körper erfahren wird. Dies ist zum Bespiel bei der Verwendung einer Klangwiege der Fall. Eine Klangwiege ist eine zwei Meter große Holzschale zum Hineinlegen, mit seitlich aufgespannten Saiten, die nach dem Prinzip des Monochords alle auf den gleichen Ton gestimmt sind. Im Sokrates Gesundheitszentrum Bodensee konnte in einer Pilotstudie die schmerzlindernde Wirkung der akustisch-vibratorischen Stimulation mit der Klangwiege nachgewiesen werden. (Schröter 2007)

Oftmals ist es für den Patienten entlastend, wenn er in der Musiktherapie die Möglichkeit erhält, sich mit Musikinstrumenten auszudrücken und seinen Symptomen, wie z.B. Schmerzen, einen musikalischen Ausdruck zu verleihen.

Dabei kommen leicht spielbare Musikinstrumente aus aller Welt, wie z.B. Gongs, Klangschalen, Trommeln, Monochord und Didgeridoo zur Anwendung. Eine musikalische Vorbildung ist für den Patienten nicht erforderlich. Selbst gesungene oder gespielte Musik wird in der Regel intensiver erlebt, als Musik aus der Konserve. Besonders hilfreich, praktikabel und immer verfügbar ist die eigene Stimme. In vielen Volks-, Schlaf- und Wiegenliedern werden existenzielle Lebensthemen, wie Liebe, Sehnsucht, Tod und Sterben thematisiert. Das Singen stellt häufig einen Bezug zu frühen Kindheitserfahrungen, mütterlichen Qualitäten wie Geborgenheit, Intimität, Schutz und Trost her, so dass damit auch regressive Bedürfnisse erfüllt werden können. Bedauerlicherweise halten sich heutzutage viele Menschen für unmusikalisch und haben den Zugang zu ihrer Singstimme verloren. Hier kann das Motto des Musiktherapeuten Wolfgang Bossinger „Jeder kann singen, so wie er kann“ und „Beim Singen gibt es keine Fehler, sondern nur Variationen“ helfen (Bossinger 2006). Mittlerweile gibt es einen großen Fundus an neuen, ohne Noten einfach zu singenden heilsamen Liedern, die vom Internationalen Netzwerk der „Singenden Krankenhäuser und singenden Gesundheitseinrichtungen“ verbreitet werden (Bossinger 2009). Diese werden wie Mantren häufig wiederholt, so dass sie nach kurzer Zeit von allen mitgesungen werden können. Wer immer noch glaubt nicht singen zu können, der brummt, summt oder tönt einfach dazu. Dies reicht bereits aus, um den Vagusnerv zu aktivieren und ausgleichend auf das vegetatives Nervensystem einzuwirken (Schnack 2012).

Hören bis zuletzt

Besonders im Palliativbereich kann mit Hilfe von Musiktherapie die Situation in eine seelisch helle und tragende Atmosphäre gebracht werden, ohne dass dabei Ernstes und Leidvolles überspielt wird. Da das Gehör als einer der ersten Sinne in Funktion tritt und als einer der letzten Sinne erlischt, ist es nahe liegend dem Hören besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Mit dem Hören von Musik kann die Lebensspur eines Menschen wiederbelebt und können die regressiven Bedürfnisse des Patienten „nachgenährt“ werden. Beim Musikerleben vereinigen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem integrativen Gesamterlebnis. Dabei kann auch die Kluft zwischen der sichtbaren materiellen Welt und der inneren emotionalen Welt problemlos überwunden werden. Gerade in den Grenzbereichen steckt ein enormes Heilungspotenzial. In der Musik ist eine psychische Energie enthalten, die transformativ wirken und tiefgreifend verändern kann. Eine veränderte Wahrnehmung der eigenen Person kann helfen, über den Schmerz hinauszuwachsen. Musik ist in der Lage, dem Patienten auch Hoffnung, Einsicht und Gewissheit zu vermitteln, dass er auch in der Not in eine allumfassende Ordnung eingebunden ist. Er kann sich mit ihr auf eine „höhere Macht“ beziehen, die ihn Stärke und Unterstützung erfahren lässt. Musiktherapie schafft eine Atmosphäre der Geborgenheit, in der Begegnungen stattfinden und Abschied gestaltet werden kann. Weil Musik in besonderer Weise emotionale, soziale und spirituelle Bedürfnisse des Patienten bedient und dem Patienten ein Gefäß für „Unerhörtes“ und „Unaussprechliches“ zur Verfügung stellt, sollte sie im medizinischen Setting nicht fehlen. In dem Musik die Grenze zwischen naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Behandlung überwindet, hilft sie der Medizin bei der Einlösung ihres Anspruchs nach echter Ganzheitlichkeit.

Thomas Schröter,
Dipl.-Sozialpädagoge, Musiktherapeut DMtG,
Psychotherapie HP
Sokrates Gesundheitszentrum Bodensee
Im Park 3, CH-8594 Güttlingen
E-Mail: t.schroeter@klinik-sokrates.ch